Sexualkunde oder Aufklärung?

Letzte Woche kam unser Kind ziemlich genervt nach Hause. Er hätte jetzt im 9. Schuljahr in Sexualkunde exakt die gleichen Bilder beschriften müssen wie schon in der 6. und 4. Klasse. Wo denn da der Sinn wäre? Außerdem wären die Grafiken auch noch falsch. Und über Konsens, geschlechtliche und sexuelle Vielfalt wird kaum ein Wort verloren! Über den weiblichen Orgasmus übrigens auch nicht. Was soll ich sagen? Wo er recht hat, hat er recht.

Also habe ich beschlossen, dem Thema einen Blog-Artikel zu widmen.

Erklärungen zu vielen der hier verwendeten Begriffe findet Ihr in meinem Glossar.

Sexualkunde vs. Aufklärung

Sexualkunde ist für mich die Darstellung biologischer Fakten zum Thema Fortpflanzung. Ich glaube, wir sind uns einig, dass wir als Menschen nicht auf die reine Fortpflanzung reduziert werden möchten. Und wenn wir uns auf Fakten beschränken wollten, dann bitte auf korrekte Darstellungen, z.B. der Klitoris (dazu lest Ihr gleich mehr).

Unter Aufklärungsunterricht verstehe ich mehr: Verhütung, Lust, Einverständnis, romantische Beziehung, geschlechtliche und sexuelle Vielfalt. Was ist gesellschaftlich akzeptiert und was nicht?

Benennung der Geschlechtsteile

Die korrekte und wertfreie Benennung der Geschlechtsteile finde ich sehr wichtig. Pippimann und Mumu kann man sagen, aber es ist schon sinnvoll, dass die Kinder auch die richtigen Wörter wie Vulva und Penis kennen. Das in der 6. Klasse zu wiederholen, ist auch richtig und wichtig. Aber in den Sexualkunde-Unterricht der 9. Klasse gehört doch etwas mehr als das.

Die Abbildungen in den Schulbüchern und auch die Bezeichnungen sind tatsächlich nicht korrekt. Die Klitoris wird z.B. als erbsengroß beschrieben und auch so abgebildet, oder gleich ganz weggelassen. Dabei ist sie ein eigenständiges, viel größeres Organ. Das wusstet Ihr nicht? Ich auch nicht, bis ich einen Artikel darüber in der TAZ gelesen habe. Hier kommt eine Biologielehrerin zu Wort. Sie setzt sich dafür ein, dass die weiblichen Genitalien richtig dargestellt und neutral benannt werden. Da geht es darum, dass Scheide oder auch Vagina den innenliegenden Muskelschlauch bezeichnet, das fachlich richtige Wort ist für den äußeren Teil ist Vulva. Große und kleine Schamlippen impliziert, dass mensch sich dafür schämen muss, und die Größenzuordnung ist auch nicht immer zutreffend. Fachlich richtig ist „innere und äußere“, wünschenswert ist Vulvalippe anstatt Schamlippe.

Ich finde das sehr wichtig, denn Sprache beeinflusst unsere Wahrnehmung unbewusst. Eine erbsengroße Klitoris nehmen wir als unbedeutend wahr, und den Schluss, dass man sich für Schamlippen schämen muss, zieht unser Unterbewusstsein mit Sicherheit.

Übrigens: von weiblichen und männlichen Geschlechtsteilen zu reden, ist im Grunde auch nicht richtig. Sowohl bei Inter– als auch bei Trans*Menschen passt das nämlich so nicht. Es gibt intergeschlechtliche Menschen, die sowohl weibliche als auch männliche Geschlechtsmerkmale haben. Und ein Trans*Mann kann eine Vulva haben und eine Trans*Frau einen Penis. Was kann ich dann schreiben, anstatt männliche und weibliche Genitalien? Ich habe darauf (noch) keine Antwort und bin deshalb erstmal dabei geblieben, auch weil es für die Mehrheit der Menschen stimmig ist.

Broschüre mit dem Namen "Talk to Me" und die Abbildung einer Klitoris
Vollständige Darstellung der Klitoris in einer Broschüre für Jugendliche vom Sunrise Dortmund und der Aidshilfe Dortmund.

Konsens

„Nein ist nein“ ist ein guter Anfang, und das Thema Konsens sollte auf jeden Fall Bestandteil des Unterrichts sein. Allerdings geht mir das nicht weit genug. Denn wenn ein Mensch sich nicht äußert, kann die*der andere das nicht als Zustimmung werten! Also muss es richtig heißen: „Nur ja heißt ja.“

Gerade das Thema Konsens betrifft uns wirklich ALLE!

Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 1997 verboten, und selbst dann gab es noch Abgeordnete, die dagegen gestimmt haben. Auch heute noch fallen Sätze wie „die hat es doch auch gewollt“, „also so wie die gekleidet war, kein Wunder!“, und andere schlimme Dinge. Ich glaube, da gibt es noch einiges aufzuräumen in unseren Köpfen und in unserer Gesellschaft! Unter anderem gilt es auch aufzuräumen mit der Vorstellung, dass „Männer immer wollen“ (und können). Auch sie dürfen nein sagen.

Übrigens: In der Rechtsprechung in Deutschland gilt: „Nein heißt Nein.“ Das bedeutet: Jede sexuelle Handlung, die gegen den erkennbaren Willen einer Person vorgenommen wird, ist strafbar. Auch der Versuch. In Spanien gilt neuerdings: „Nur Ja heißt Ja.“ Alle Beteiligten müssen der sexuellen Handlung ausdrücklich zustimmen. Mehr dazu findet Ihr in einem Instagram-Beitrag von funk, dem Content-Netzwerk von ARD und ZDF. Natürlich ist das im Zweifelsfall beides schwierig nachzuweisen, aber die Grundhaltung ist eine ganz andere, und das ist entscheidend!

Übersicht über die Gesetzeslage: Deutscchland "NEin heißt nein" und Spanien "Nur Ja hei0ßt Ja"
Beitrag auf dem Instagram-Account von funk

Sexuelle Vielfalt und romantische Orientierung

Das Thema sexuelle Vielfalt ist vielfältiger, als es häufig wahrgenommen wird. Es geht nicht nur um Homosexualität, sondern auch um Bi-, Pan- und Asexualität. Und eigentlich auch um aromantische und polyamouröse Menschen, und einiges mehr.

In unserer Gesellschaft wird die heterosexuelle, monogame Beziehung, nach Möglichkeit lang andauernd und mit Kindern gesegnet, als „normal“ angenommen. Selbstverständlich haben diese Menschen Sex und finden das toll. Das wird in den Medien, Büchern, Schulbüchern, Märchen, sogar in der Werbung reproduziert. Und es erzeugt ein wirklichkeitsfernes Bild in unseren Köpfen, an dem wir uns täglich messen.

Was, wenn jemand dieser Norm nicht entspricht? Gerade in der Pubertät wollen Jugendliche einfach nur „normal“ sein und dazu gehören. Es wäre wirklich gut, wenn sie in der Schule lernen würden, wie breit das „normale“ Spektrum ist! Dabei ist es wichtig zu betonen, dass sich niemand in eine Schublade einordnen MUSS (labeln heißt das bei der Jugend 😉 ), und dass keine Festlegung endgültig oder bindend ist.

Das Thema geschlechtliche Vielfalt und romantische Orientierung muss nicht erschöpfend und in der Tiefe behandelt werden, das ist gar nicht nötig und wäre auch wirklich schwierig. Einen Überblick zu geben, ist aber möglich und sinnvoll.

Geschlechtliche Vielfalt

Das Thema geschlechtliche Vielfalt lässt sich kurz und knackig für jede Altersstufe passend präsentieren. Muss das in der Grundschule schon sein? Ich meine ja! Denn es gibt Kinder, die bereits seit dem Kindergarten als das Wunschgeschlecht leben. Eine kurze, kindgerechte Erklärung, dass es Inter– und Trans*Menschen gibt, wird kein Grundschulkind überfordern. Gerade Kinder gehen mit Thema in der Regel sehr locker um.

Spätestens in der 6. Klasse sollte es etwas ausführlicher behandelt werden. Denn mit Eintritt der Pubertät stellen viele Trans*Menschen fest, dass sie sich mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht nicht oder nicht vollständig identifizieren. Wenn sie dann in der 6. Klasse bereits etwas darüber gehört hätten, würde das viel Leid ersparen. Außerdem schafft das darüber Reden Akzeptanz und Bewusstsein, denn worüber wir (sachlich) reden, das erscheint uns als normal.

Auch beim Thema geschlechtliche Vielfalt kann man relativ einfach und kurz einen Überblick geben, ohne in die Tiefen abzutauchen. Ich persönlich halte es allerdings für sinnvoll, Dinge wie nicht-binär und genderfluid zu erwähnen, da das wirklich viele Menschen nicht kennen.

Werden die Schüler*innen dadurch beeinflusst?

Darauf ist die Antwort ganz klar: Nein!

Die sexuelle, geschlechtliche oder romantische Orientierung ist keine Entscheidung und nicht beeinflussbar. Deshalb ist die sogenannte Konversionstherapie („Umerziehung“) grausam und heute in vielen Ländern verboten. Auch wird Homosexualität und Trans*identität im ICD 10 bzw. 11 nicht mehr als Krankheit gelistet (ICD: International Classification of Deseases and Related Health Problems).

Wie ich bereits erwähnt habe, werden in Filmen, Medien, Werbung, sogar Computerspielen, usw. überwiegend cis-Hetero-Menschen dargestellt und entsprechende Geschichten erzählt. Wenn uns das beeinflussen würde, dann gäbe es keine queeren Menschen. Das gilt ganz besonders für die Einteilung in männlich und weiblich: Bereits während der Schwangerschaft wird nach dem Geschlecht geschaut und häufig alles danach ausgerichtet, vom ersten Strampler in (vermeintlichen) Jungen- oder Mädchenfarben bis zur Ausstattung des Kinderzimmers. Es gibt Jungen- und Mädchen-Duschgel, Lego, Schultornister, Spielzeug, Bücher, Kleidung, die Liste lässt sich unendlich fortführen. Wenn Ihr das nicht glaubt, schaut mal bitte auf der Webseite oder dem Instagram-Account von Rosa-Hellblau-Falle®. Also wenn die Jugendlichen beeinflusst würden, dann gäbe es definitiv keinen einzigen homosexuellen oder nicht-binären Menschen.

Durch die bloße Erwähnung im Unterricht wird niemand trans* oder homosexuell. Dann dürften wir im Geschichtsunterricht auch nicht über Hitler sprechen, weil die Schüler*innen dadurch Nazis werden.

Gehört das in den Biologie-Unterricht?

Natürlich kann man darüber diskutieren, ob all das zum Lehrauftrag der Schule gehört. Die Eltern haben da schließlich auch eine Verantwortung und alles kann man nicht auf die Schule abwälzen. Andererseits ist das Thema einfach zu grundlegend und wichtig, und allgemeiner kann Allgemeinbildung nun wirklich nicht sein. Die französische Revolution, Integralrechnung, Gedichtanalyse, das alles wird als so wichtig erachtet, dass es in der Schule gelehrt wird. Das wird nicht den Eltern überlassen, das könnten wir auch gar nicht. Genauso sehe ich das bei der Sexualaufklärung auch! Es haben nicht alle Eltern die Fähigkeiten und das Wissen, und es ist so wichtig, dass es auf den Lehrplan gehört.

Muss das in Sexualkunde in Biologie sein? Ich weiß es nicht. Es erscheint mir logisch und einfach, das an dieser Stelle einzubinden. Natürlich kann das Geschlechterverständnis und die Vorstellungen von Beziehung, Partnerschaft und Familie in verschiedenen Fächern einen Platz finden. Da fände ich auch wünschenswert.

Ich habe versucht, herauszufinden, was die Lehrpläne vorgeben. Ich muss gestehen, das ist mir als Laie nicht gelungen. Wenn ich dazu noch etwas in Erfahrung bringe, werde ich es ergänzen.

Mein Fazit

Ich wünsche mir, dass das Ministerium für Schule und Bildung, Schulen, Schulbuchverlage und Lehrkräfte sich ihrer Verantwortung bewusst werden und zeitgemäß, sachlich und unaufgeregt umfassend informieren. Meines Erachtens lässt sich das einfach und mit relativ wenig zeitlichem Aufwand im Fach Biologie in den Unterricht integrieren. Dies kann in allen Klassen altersgemäß und in angepasstem Umfang erfolgen.

To be continued…

Ich kenne eine Biologie-Lehrerin (Sek. I) und eine Grundschullehrerin. Mit beiden möchte ich über das Thema sprechen und ihre Ansichten ergänzen.

 

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